Wir haben mit dem Bürgerrechtler Patrick Breyer ein Interview zum Thema Urteilsveröffentlichungen und Open Data in der Justiz geführt. Er ist einer derjenige, der sich für eine transparente Justiz stark macht und im vergangenen Jahr eine Antrag auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift in der sog. Rocker-Affäre in Schleswig Holstein stellte. Er hatte als Landtagsabgeordneter den Vorwurf aufgedeckt, dass Kieler Kriminalbeamte in einem Strafverfahren gegen Rocker entlastende Aussagen unterdrückt haben sollen. Der Antrag wurde abgelehnt. Patrick Breyer hat 2017 erreicht, dass der EuGH gerichtliche Schriftsätze öffentlich zugänglich machen muss (Az.C-213/15P).

“Der Rechtsunterworfene muss wissen, welche Rechte und Pflichten er hat.” Patrick Breyer

Herr Breyer, Sie sind Bürgerrechtler und setzten sich für eine transparente Justiz ein, wie steht es um die Veröffentlichungspraxis der Gerichte in Deutschland?

Von Gericht zu Gericht, von Richter zu Richter ist die Veröffentlichungspraxis sehr uneinheitlich. Wünschenswert wäre eine gesetzliche Regelung.

Was verstehen Sie unter transparenter Justiz?

Als die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen eingeführt wurde, sollte Machtmissbrauch begegnet werden. Heutzutage werden - mit Ausnahme des Strafrechts - Gerichtsverfahren zu einem so großen Teil schriftlich geführt, dass zu einer modernen Justiz auch ein grundsätzlich öffentlicher Zugang zu Verfahrensdokumenten einschließlich der abschließenden Entscheidungen gehört. Das stärkt das öffentliche Verständnis für die Justiz. Außerdem muss der Rechtsunterworfene wissen, welche Rechten und Pflichten er hat. Eine transparente Rechtsprechung erleichtert vor allem auch dieser selbst die Arbeit. So können Richter nachlesen, wie Kollegen und übergeordnete Instanzen entschieden haben. Das kann auch Rechtsmittel vermeiden und die Justiz entlasten.

Was ist Ihre Motivation für den Einsatz für eine offene, transparente Justiz?

Die EU-Kommission klagte vor dem EuGH, weil einige EU-Mitgliedsstaaten keine verdachtslose Vorratsdatenspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten einführen wollten. Dies ist ein so tiefgreifender Grundrechtseingriff, dass ich Zugang zu den gewechselten Schriftsätzen beantragt habe. Die Verfahrensbeteiligten agieren hier nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Bürger und mit Wirkung für Millionen Betroffener. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt es bereits eine Regelung über den öffentlichen Zugang zu Schriftsätzen auch in laufenden Verfahren.

Wann müssen Urteile veröffentlicht werden? Welche Kriterien gibt es dazu?

In Deutschland zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann. Zum einen ist eine “amtliche Auswahl” zu treffen, und zwar dies aus der Sicht des mit der Materie befassten Richters bzw. seines Spruchkörpers. Zum anderen ist die Gerichtsverwaltung gehalten, die Auswahl um diejenigen Entscheidungen zu ergänzen, an deren Veröffentlichung ersichtlich ein öffentliches Interesse besteht. Das ist in der Regel bei entsprechenden Anfragen aus Presse und Öffentlichkeit zu bejahen.

Wo werden Urteile veröffentlicht? Sind Urteile der Allgemeinheit immer zugänglich?

Zwar unterhalten inzwischen wohl alle Länder und der Bund kostenfreie Urteilsdatenbanken. Viele Urteile finden sich aber nur in kommerziellen, kostenpflichtigen Datenbanken. Außerdem ist die Erschließung der vielen kostenfreien Datenbanken mangels einer einheitlichen Suchfunktion kaum möglich. Wenn eine Entscheidung nicht im Internet zu recherchieren ist, kann man eine anonymisierte Abschrift - etwa unter Angabe des Aktenzeichens - anfordern. Laut Bundesgerichtshof setzt dies in Zivilsachen kein “berechtigtes Interesse” voraus, in Strafsachen aber doch.

Es gibt den Anspruch auf Herausgabe einer sog. anonymisierten Urteilsabschrift. Von diesem Anspruch haben Sie bei der sog. Rocker-Affäre Gebrauch gemacht und wollten ein Urteil des Landgerichts Kiel herausverlangen. Nach Ablehnung ihres Antrags haben Sie Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingereicht. Ihre Beschwerde wurde abgelehnt (Az. 5 AR (Vs) 112/17). Wie ist Ihre Auffassung zu dieser Entscheidung?

Der Bundesgerichtshof hat zwar nur über das zuständige Gericht entschieden und noch nicht in der Sache; mein Antrag liegt zurzeit dem Landgericht Kiel vor. Jedoch hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, der Zugang Privater zu anonymisierten strafrechtlichen Entscheidungen nach der Strafprozessordnung setze ein berechtigtes Interesse voraus. Ob sich aus Informationsfreiheitsrecht ein voraussetzungsloses Einsichtsrecht ergibt, ließ der Bundesgerichtshof offen. Meine Meinung ist: Wenn unsere Gerichte im Namen des Volkes urteilen, sind sie dem Bürger auch Rechenschaft schuldig. In einem Rechtsstaat muss jeder Bürger seine Rechte und Pflichten in Erfahrung bringen können. Auch eine kritische Diskussion von Urteilen setzt voraus, dass sie auf Anfrage anonymisiert herausgegeben werden.

In Ihrem Fall kannten Sie das Aktenzeichen des Verfahrens. Wie denken Sie über den Fall, wenn jemand sich über Urteile im Allgemeinen informieren möchte, um sich bspw. ein Bild von der Rechtsprechung zu verschaffen, aber die Aktenzeichen der Urteile nicht vorhanden sind. Greift dann der Anspruch auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift? Welche Wege gibt es Ihrer Ansicht nach?

Hier lässt sich wohl die Praxis zu Informationsfreiheitsgesetzen übertragen. Wer anfragt, muss die gewünschten Informationen so genau wie möglich bezeichnen. Die informationspflichtige Stelle muss dann mit zumutbaren Mitteln versuchen, die gewünschten Informationen zu identifizieren. Der Justiz stehen dafür Suchmasken zur Verfügung, die aber - zumindest in Schleswig-Holstein - keine Volltextsuche ermöglichen. Eine themenbezogene Anfrage wird deshalb meist keinen Erfolg haben. Deshalb ist es wichtig, ein Verfahren zur Regelveröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in kostenfreien Internet-Datenbanken einzuführen, das mit möglichst wenig Aufwand verbunden ist.

Wie würde für Sie eine transparente Justiz und Rechtsprechung idealerweise aussehen?

Dazu gehört die geregelte Veröffentlichung anonymisierter Entscheidungen über kostenfreie Internet-Datenbanken, ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu Verfahrensunterlagen, eine Information der Öffentlichkeit über die Geschäftsverteilung im Internet und eine Information über laufende Verfahren von öffentlichem Interesse im Internet.

Denken Sie, dass alle Urteile veröffentlicht werden sollten?

Nein. Bei Urteilen ohne Begründung (z.B. Versäumnisurteilen) beispielsweise macht eine Veröffentlichung wenig Sinn.

Welche Vor- und Nachteile sehen Sie für die Justiz mit Open Data für juristische Informationen?

Eine transparente Rechtsprechung erleichtert zuallererst dieser selbst die Arbeit. So können Richter nachlesen, wie Kollegen und übergeordnete Instanzen entschieden haben. Das kann auch Rechtsmittel vermeiden und die Justiz entlasten. Wenn die Anwaltschaft einen besseren Zugang zu Entscheidungen erhält, können unter Umständen auch ganze Verfahren vermieden werden. Als Nachteile genannt werden der Arbeits- und Kostenaufwand sowie Daten- und Persönlichkeitsschutz der Beteiligten. Hier ist Überzeugungsarbeit nötig, dass der Nutzen die Kosten rechtfertigt.

Welche anderen Bereiche könnten Ihrer Meinung nach von juristischer Open Data profitieren?

Bürger, Wirtschaft und Verwaltung als Rechtsunterworfene profitieren von einer transparenten Justiz. Aber auch die Wissenschaft kann Erkenntnisse aus der Spruchpraxis ziehen, aus denen wiederum der Gesetzgeber seine Schlüsse ziehen kann.

Herr Breyer, vielen Dank für das Interview. Das Interview führte Saskia Ostendorff.