In dem folgenden Interview zum Thema „Urteilsveröffentlichungen in Georgien“ hat Tamar Ergemlidze, LL.M. im deutschen Recht (Universität Köln), Juristin aus Georgien und derzeit Gast-Forscherin an der FU-Berlin. Sie beschäftigt sich mit der Analyse der Rechtsprechung vom EGMR und untersucht die Standards der unabhängigen Justiz, sowohl im Allgemeinen als im Besonderen die Rolle der Rechtsprechung und des Richterrechts. In Georgien arbeitet sie am Berufungsgericht in Tbilissi, wo sie als Beraterin im Büro des Präsidenten des Gerichts angestellt ist. Sie beantwortet uns Fragen rund um das Rechtssystem in Georgien und wie dort Urteile veröffentlicht werden.

„In 2016 hat der Höchsten Justizrat Georgiens eine Art von Verordnung (dem Gesetz untergeordnete normativer Akt) verabschiedet, die eine proaktive Veröffentlichung aller gerichtlichen Entscheidungen vorsieht.“

1. Wie ist das Rechtssystem in Georgien aufgebaut?

Das Rechtssystem Georgiens wird zum kontinentaleuropäischen System zugeordnet und ist ziemlich ähnlich mit dem Deutschen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden das ganze Rechtssystem und die Gesetzgebung neu gedacht und insbesondere das Zivilrecht wurde dem deutschen Modell angeglichen. Es ist in der Weise konzipiert worden, dass sogar die deutsche Rechtsprechung und die BGH-Urteile heutzutage auch in Georgien angefragt werden, um manchmal als Hilfsmittel für die Auslegung der Gesetzesnormen benutzt zu werden. Prozessrechtlich - die Gerichtsbarkeiten in Deutschland sind viel komplexer aufgebaut. In Georgien gibt es zwei Gerichtszweigen – Ordentliches- und Verfassungsgerichtsbarkeiten. Zum ordentlichen System gehören Straf-, Zivil- und Verwaltungsrechtlichen Sachen. Das ordentliche Gerichtssystem ist in drei Instanzen aufgeteilt. Das Verfassungsgericht mit eigenständiger Verfassungsgerichtsbarkeit, ist von der obengenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit zu trennen und hat keine Unterteilung der Instanzen.

2. Was sind die Rechtsgrundsätze in Georgien?

Rechtsgrundsätze, die in der Gesetzgebung verankert sind und in Georgien Anwendung finden, kann man kaum von dem in EU geltenden Grundsätzen unterscheiden. Dies ergibt sich einerseits wegen der bereits bei der Erarbeitung der Verfassung und der Gesetzen stattgefundenen gründlichen Angleichung und Anpassung. Andererseits aber auch dadurch, dass obwohl Georgien noch kein Mitglied der Europäischen Union ist, die rechtlich bindende Dokumente des Europäischen Rates vollumfänglich ratifiziert und anerkannt worden sind. Das heißt, durch die direkte und unmittelbare Geltung der europäischen Konvention der Menschenrechte, sowohl andere zahlreichen internationalen Verträgen und Konventionen, die geltende Grundprinzipien in Georgien genau dieselbe sind. Zum Beispiel Transparenz, Rechenschaftspflicht und Good Governance, Bereitstellung der öffentlichen Information – gehören zur vitalen Teil der Verwaltung und Staatsführung.

3. Gibt es einen Veröffentlichungsgrundsatz, und wenn ja wie sieht dieser aus?

In diesem Zusammenhang sind zwei wichtigste Grundsätze zu beachten. Einerseits, das Gesetzt sichert den Zugang zu allen amtlichen Dokumenten jeder Person zu. Andererseits gibt es Verbot der Bekanntmachung der persönlichen Daten (Datenschutz). Die genauen Regeln sind im allgemeinen Verwaltungsgesetzbuch Georgiens vorgesehen. Als Veröffentlichungsgrundsatz gilt der Art. 10, sowie das ganze dritten Kapitel (Informationsfreiheit) des genannten allgemeinen Verwaltungsgesetzbuches Georgiens.

Art. 10. Öffentlichkeit

  1. Jeder hat das Recht, in amtliche Dokumente der Behörde einzusehen und eine Abschrift davon zu verlangen, es sei denn, dass die Dokumente Staats-, Berufs-, Geschäfts- oder Privatgeheimnisse enthalten.

Art. 37

  1. Um öffentliche Information zu erhalten, muss eine Person einen schriftlichen Antrag stellen. Der Antragsteller ist nicht verpflichtet, die Gründe oder den Zweck seines Antrags darzulegen.

Art. 38. Zugang zu der Abschrift von öffentlicher Information Die öffentliche Einrichtung hat den Zugang zu der Abschrift von öffentlicher Information zu gewähren. Es ist untersagt, für die Verteilung von öffentlicher Information zusätzliche Gebühren außer den Kopierkosten zu erheben.

Basierend auf diesen Gesetzesnormen und auch auf die in der EGMR Rechtsprechung entwickelten Prinzipien, wurde eine gerichtlich anerkannte positive Pflicht des Staates herangewachsen, demnach allen und jedem die Möglichkeit zuzusichern ist, einen Zugriff auf die depersonalisierten Urteile des Gerichts zu haben. Wieweit ich mich daran erinnere, gab es ein paar Urteile des obersten Gerichts (Verwaltungsrechtskammer), die demnach einige Behörden dazu verpflichtet hatten, öffentliche Information (dazu zählten auch die Gerichtsurteile) uneingeschränkt und bedingungslos zur Verfügung zu stellen.

In 2016 hat der Höchsten Justizrat Georgiens eine Art von Verordnung (dem Gesetz untergeordnete normativer Akt) verabschiedet, die eine proaktive Veröffentlichung aller gerichtlichen Entscheidungen vorsieht.

4. Welche Bedeutung hat die Rechtsprechung in Georgien?

Wie in allen kontinentaleuropäischen Rechtssystemen, haben die Rechtsprechung und einzelnen Gerichtsurteile keine bindende Kraft. Anders als in dem Common Law System bekannt. Das heißt, die individuellen Entscheidungen sind nur für die jeweiligen Parteien bindend. Sodass bei der Entscheidungsfindung die Richter lediglich dem Gesetz unterworfen sind. Es gibt aber auch den Grundsatz, nach dem die Entscheidungen der Großen Kammer des Obersten Gerichtshofs von den anderen Gerichten zu folgen sind. Eine zusätzliche Rolle in diesem Zusammenhang spielt auch die Bedeutung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Insofern dies zum Ziel gesetzt und angestrebt wird, sind die Gerichte angewiesen die bisherige Rechtsprechung in Rücksicht zu nehmen. Tatsächlich ist es, sowohl für die Richter wie auch für die Rechtsanwälte, immer sinnvoll und sehr hilfreich die aktuelle Rechtsprechung zu kennen.

5. Wie findet die Rechtsprechung Anwendung in der Praxis bei der Beratung und Vertretung von Klienten?

Wie die einzelnen Beratungen mit den Mandaten ablaufen, kann ich nicht sagen. Es gibt aber unheimlich großes Interesse seitens der Rechtsanwälte, die aktuellste Rechtsprechung des Gerichts zu erfragen. Den Bedarf und die Anwendung sieht man auch dadurch, dass die Beschwerden, normalerweise, mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung und auf die beispielhaften Urteile begründet werden. Gerade In diesem Zusammenhang spielt die Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine sehr wichtige Rolle. Die Zugänglichkeit der neuesten Gerichtsentscheidungen ist daher ein sehr hilfreiches Mittel für alle Parteien, sei es die Rechtsanwälte oder sogenannte Self-Defendants.

6. Wo können sich Bürger über die aktuelle Rechtsprechung in Georgien informieren?

Man informiert sich, entweder klassisch, durch einen schriftlich gestellten Antrag ans Gericht, oder reicht man diesen Antrag online ein. Hier zum Beispiel die Webseite, die dies online ermöglicht: (http://service.court.ge/public/) . Der Antrag erübrigt sich eigentlich, denn wie oben erwähnt, normalerweise die Gerichte selbst im Vorfeld – also, proaktiv - die Entscheidungen zur Verfügung stellen. Die Urteile des obersten Gerichts sind schon, seit Jahren, veröffentlicht worden und jeder hat Zugriff zu den Datenbank.en Hier die Webseite dafür: http://prg.supremecourt.ge/ Die Entscheidungen von den zweiten und ersten Instanzen waren bisher wegen des Mangels an Kapazitäten und an Personal um all diese Urteile in einem depersonalisierten Form zur Verfügung zu stellen – nicht im vollen Umfang veröffentlicht worden. Es gab aber z.B vom Appellationsgericht Tbilissi - aufgestellte und geführte Webseite – www.library.court.ge die, die wichtigsten Entscheidungen vom Berufungsgericht und teilweise auch erstinstanzliche Urteile zur Verfügung gestellt hat. Die Einführung der modernen Technologien und Programmierungen, hat es möglich gemacht, die Depersonalisierung fast automatisch durchgeführt zu werden. So werden die Entscheidungen von Amtsgerichte und Berufungsgerichte auf dieser Webseite veröffentlicht: http://info.court.ge/DecisionBarcodeDocs.aspx

7. Werden alle Urteile, von Amtsgericht bis zum obersten Gericht, veröffentlicht?

Ja richtig. Wie gesagt, im Jahr 2016 wurde vom Höchsten Justizrat Georgiens „Die Regel der Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen“ verabschiedet, die ab 01.01.2017 in Kraft getreten ist. Nach dieser Regel werden alle Urteile von Amtsgericht bis zum obersten Gericht auf die Webseite – www.info.court.ge veröffentlicht. Die Veröffentlichung findet unter Berücksichtigung der Datenschutzregeln statt. Entscheidungen werden spätestens einen Monat nach der Übermittlung der begründeten Urteile an die Parteien auf die Webseite veröffentlicht. Dieser Regel in Praxis durchzusetzen ist allerdings nicht ganz einfach. Größte Herausforderung vor Gerichten war der Mangel an Personal und Kapazitäten, um die Depersonalisierung aller Urteile zu ermöglichen. Meines Wissens, obwohl das automatisierte Programm in Gang gesetzt wurde, benötigt es trotzdem eine „menschliche Durchsicht“ und damit die Zeit, bis die Urteile korrekt anonymisiert werden konnten. Deswegen ist diese Übergangsphase ein bisschen schwierig. Hauptsache war, dass eine gesetzliche Pflicht der Veröffentlichung festgelegt wurde. Das entsprechende Programm ist auch geschaffen und in Praxis gesetzt. Zurzeit läuft der Prozess alle Entscheidungen (ab 01.01.17) zu depersonalisieren und langsam der Datenbank mit der bisherigen Rechtsprechung anzureichern.

8. Was ist Ihre Meinung zu der Veröffentlichung von amtsgerichtlichen Entscheidungen?

Ich finde dieser Weg allseits richtig und sogar notwendig. Wenn die Urteile mit persönlichen Angaben zu veröffentlichen wären, wäre ich eher vorsichtig, weil es wahrscheinlich gegen den Grundsatz der Datenschutz verstoßen würde. Zum Interesse der Entwicklung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung, sowohl für die Interesse der Rechtsanwälte und vor allem der Bürger (die vielleicht einen Anwalt nicht leisten können), kann es von enorm großen Bedeutung sein, Zugang zur Rechtsprechung zu haben. Der Gerichtsprozess ist grundsätzlich ja offen und unter diesem Grundsatz versteht man auch die Zugänglichkeit der Rechtsprechung. Eine andere Frage ist aber, welche Suchmechanismen in diesem Programm vorgesehen sind und inwieweit die Datenbank die Verfeinerung der Suchergebnisse ermöglichen soll. Die zusätzliche Bearbeitung der Entscheidungen, Sortierung nach den einzelnen Rechtsfragen, ist nicht unbedingt ein Teil der obengenannten positiven Pflicht, meiner Meinung nach. Es würde die Gerichte extrem belasten, die kommerziell konkurrenzfähige Plattformen treiben zu versuchen. Daher, wenn wir vom staatlichen Seite anschauen, Zugang zur Rechtsprechung - ja! “Professionelle Erforschung“ der Gerichtspraxis und zusätzliche Leistungen für interessierten Fachkreise - nein.

9. Welche grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und Unterscheide gibt es zwischen dem deutschen und georgischen Rechtssystem?

Es ist eine etwas komplexe Frage. Gemeinsamkeiten sind wirklich viel und deswegen möchte ich nur die wesentlichsten Unterschiede nennen. Ein offensichtlicher Unterschied wäre, die Staatsorganisationsform selbst. Georgien ist nicht föderal organisiert und macht das Rechtssystem einfacher. Außerdem, wie oben erwähnt, gibt es in Georgien keine speziellen Gerichtsbarkeiten wie in Deutschland (Verwaltungs-, Arbeits-, Sozial-, Finanzgerichtsbarkeiten). All diese gefächerten Gerichte sind in Georgien unter einem Dach – ordentliche Gerichtsbarkeit zwischen Straf-, Zivil- und Verwaltungsrechtlichen Kammern - unterteilt. Ein nennenswerter Unterschied wäre auch das Jury-System im Strafverfahren. Wieweit ich weiß, gibt es keinen Jury-Prozess in Deutschland. Ansonsten, sind die Gerichtsprozesse in Georgien ausschließlich durch Berufsrichter geführt ohne jegliche Teilnahme, der für das deutschen System bekannte Laien-Richter. Noch ein auffallender Unterschied, was glaub ich, teilweise auch ein kultureller Unterschied widerspiegelt - das ist der Umgang mit Daten und Datenoffenheit. Z. B. Grundbuch und allerlei Eigentumsrechte sind in Georgien offen und für alle jederzeit online zugänglich.

10. Wie sehen sie ein Daten-für-Alle Gesetz? Gibt ein Daten-für-Alle Gesetz, bzw. ein Open Data Gesetz in Georgien?

Die Idee ist, wie ich es verstehe, dass jede Person Zugang zu eigenen Daten haben sollte. Und auch, dass die öffentliche Information für alle kostenlos zugänglich sein soll. Dies finde ich für selbstverständlich und absolut gerechtfertigt. Den Zugang muss allen zugesichert werden und es muss von zusätzlichen Kosten frei sein. Wobei, wie oben gesagt, die Verfeinerung der umfangreichen Information schon eine Menge Arbeit braucht, was wiederum zur gefährlichen Belastung der staatlichen Behörden führen kann. Daher denke ich, muss es eine vernünftige Grenze geben. Wiederum um über die Gerichtsentscheidungen zu sprechen, die Aussortierung nach den feinsten Bereichen oder nach den Ergebnissen oder Verfahrensdauer usw. - all diese mögliche Filter und Verlinkung der Urteile um es schnell und präzis zu finden zu sein, das ist schon eine zusätzliche Leistung. Ein Gesetz mit diesem Titel – Open Data – gibt es nicht. Was es gibt, das ist das relativ neues Gesetz zum Schutz der persönlichen Daten und auch eine staatliche neu geschaffene Institution - Office of the Personal Data Protection Inspector. Also, die Offenheit und Zugänglichkeit der Information wird durch das allgemeine Verwaltungsgesetzbuch garantiert. Der Schutz der Persönlichen Daten – durch das genannte Gesetz.

11. Wenn Sie etwas in Bezug auf die Rechtsprechung in Georgien ändern könnte, was wäre das? Und welche Praxis in der Rechtsprechung würden Sie von Georgien nach Deutschland übernehmen?

Verbesserung ist ein unendlicher Prozess. Es gibt natürlich vieles, was man besser machen könnte. Eines was mich manchmal richtig stört, ist die Länge und den Aufbau der georgischen Gerichtsentscheidungen. Das ist nicht nur meine Meinung. Es gibt schon mehrere Versuche auch mit der Teilnahme der deutschen Kollegen, den Urteilsaufbau in der Weise zu vereinfachen, damit einerseits die Gerichte entlastet, und andererseits der Leser geschont wird. Klarheit und Knappheit der Urteile - da würde ich gern mein Zaubermodell entwickeln. Außerdem, die Anzahl der Richter zu erhöhen, das wäre auch sehr wünschenswert. Verbesserungsvorschläge für die deutsche Justiz wäre für mich schwer zu nennen. Von einigen deutschen Kollegen habe ich aber gehört, dass sie auch sehr gern solche persönlichen Assistenten, wie es bei uns praktiziert wird. Normalerweise hat jeder Richter in Georgien eigenes Team. Das heißt zwei Assistenten und ein Protokollführer. Sie arbeiten an den Fällen zusammen. Vielleicht könnte man das übernehmen.

Vielen Dank für das Interview. Das Interview führte Saskia Ostendorff, Co-Founderin Open Legal Data